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Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung gekippt


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In dem Spannungsverhältnis zwischen der Pflicht des Staates zum
Rechtsgüterschutz und dem Interesse des Einzelnen an der Wahrung seiner
von der Verfassung verbürgten Rechte ist es zunächst Aufgabe des
Gesetzgebers, in abstrakter Weise einen Ausgleich der widerstreitenden
Interessen zu erreichen. Ihm kommt dabei ein Einschätzungs- und
Gestaltungsspielraum zu. Ziel des Gesetzgebers war es hier, den
unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen, rechtsstaatlichen
Strafrechtspflege angesichts einer grundlegenden Veränderung der
Kommunikationsmöglichkeiten und des Kommunikationsverhaltens der
Menschen in den letzten Jahren Rechnung zu tragen. Dieses Ziel setzt
grundsätzlich die Ermittelbarkeit der zur Aufklärung erforderlichen
Tatsachen voraus. Dabei ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass
gerade Telekommunikationsverkehrsdaten aufgrund der technischen
Entwicklung hin zu Flatrates oftmals entweder überhaupt nicht
gespeichert werden oder bereits wieder gelöscht sind, bevor eine
richterliche Anordnung zur Auskunftserteilung erwirkt werden kann oder
auch nur die für einen entsprechenden Antrag erforderlichen
Informationen ermittelt sind. Die Tatsache, dass elektronische oder
digitale Kommunikationsmittel in nahezu alle Lebensbereiche vorgedrungen
sind und deshalb in bestimmten Bereichen die Strafverfolgung und auch
die Gefahrenabwehr erschweren, berücksichtigt die Senatsmehrheit zwar
bei der Prüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit der
Verkehrsdatenspeicherung, gewichtet sie aber bei der
Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne unter dem Aspekt der
Angemessenheit und Zumutbarkeit nicht in dem gebotenen Maße.

Die Senatsmehrheit schränkt damit zugleich den Einschätzungs- und
Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, auf dem Felde der
Straftatenaufklärung und der Gefahrenabwehr zum Schutz der Menschen
angemessene und zumutbare Regelungen zu treffen, im praktischen Ergebnis
nahezu vollständig ein. Dadurch trägt sie auch dem Gebot
verfassungsrichterlicher Zurückhaltung („judicial self-restraint“)
gegenüber konzeptionellen Entscheidungen des demokratisch legitimierten
Gesetzgebers nicht hinreichend Rechnung. Das Urteil gibt eine
Speicherdauer von sechs Monaten also dem durch die EG-Richtlinie
geforderten Mindestmaß als an der Obergrenze liegend und
verfassungsrechtlich allenfalls rechtfertigungsfähig vor, schreibt dem
Gesetzgeber regelungstechnisch vor, dass die Verwendungszweckregelung
zugleich die Zugriffsvoraussetzungen enthalten muss, beschränkt ihn auf
eine Katalogtatentechnik im Strafrecht, schließt die Möglichkeit der
Nutzung der Verkehrsdaten auch zur Aufklärung von mittels
Telekommunikationsmitteln begangenen schwer aufklärbaren Straftaten aus
und erweitert die Benachrichtigungspflichten in bestimmter Art. Danach
bleibt dem Gesetzgeber kein nennenswerter Spielraum mehr für eine
Ausgestaltung in eigener politischer Verantwortung.

Der Senat verwehrt dem Gesetzgeber insbesondere die Abrufbarkeit der
nach § 113a TKG gespeicherten Verkehrsdaten für die Aufklärung von
Straftaten, die nicht im derzeitigen Katalog des § 100a Abs. 2 StPO
bezeichnet, aber im Einzelfall von erheblicher Bedeutung sind, sowie von
solchen Taten, die mittels Telekommunikation begangen sind (§ 100g Abs.
1 Satz 1 Nr. 1 und 2 StPO). Hinsichtlich der letztgenannten Taten wird
nicht genügend gewichtet, dass der Gesetzgeber hier von erheblichen
Aufklärungsschwierigkeiten ausgeht. Da es Sache des Gesetzgebers ist,
eine wirksame Strafverfolgung zu gewährleisten und keine beträchtlichen
Schutzlücken entstehen zu lassen, kann es ihm nicht versagt sein, auch
bei Straftaten, die zwar nicht besonders schwer sind, aber Rechtsgüter
von Gewicht schädigen den Zugriff auf die Verkehrsdaten zu eröffnen,
weil nach seiner Einschätzung nur so das Entstehen faktisch weitgehend
rechtsfreier Räume und ein weitgehendes Leerlaufen der Aufklärung
ausgeschlossen werden kann. Hinzu kommt, dass sich der Gesetzgeber bei
der Gestaltung der strafprozessualen Zugriffsbefugnis an Kriterien
orientiert hat, die der Senat in seinem Urteil vom 12. März 2003
(BVerfGE 107, 299 <322>) zur Herausgabe von Verbindungsdaten der
Telekommunikation gebilligt hat.

3. Im Rechtsfolgenausspruch hätte es auch auf der Grundlage der
verfassungsrechtlichen Würdigung der Senatsmehrheit unter Rückgriff auf
eine ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nahe gelegen,
dem Gesetzgeber eine Frist für eine Neuregelung zu setzen und die
bestehenden Vorschriften in Anlehnung an die Maßgaben der vom Senat
erlassenen einstweiligen Anordnungen für vorübergehend weiter anwendbar
zu erklären, um nachhaltige Defizite insbesondere bei der Aufklärung von
Straftaten, aber auch bei der Gefahrenabwehr zu vermeiden.

Sondervotum Richter Eichberger:
Das Sondervotum schließt sich der Kritik des Richters Schluckebier an
der Beurteilung der Eingriffsintensität der Speicherung der
Telekommunikationsverkehrsdaten als Eingriff in Art. 10 Abs. 1 GG im
Wesentlichen an. Die den §§ 113a, 113b TKG zugrunde liegende
gesetzgeberische Konzeption einer gestuften legislativen Verantwortung
für die Speicherungsanordnung auf der einen Seite und den Datenabruf auf
der anderen Seite steht im Grundsatz mit der Verfassung in Einklang.
Dies gilt insbesondere für die in § 100g StPO geregelte Verwendung der
nach § 113a TKG gespeicherten Daten zu Zwecken der Strafverfolgung. Der
Gesetzgeber ist nicht gezwungen die Verhältnismäßigkeit der
Abrufregelung ausschließlich an dem größtmöglichen Eingriff eines
umfassenden, letztlich auf ein Bewegungs- oder Sozialprofil des
betroffenen Bürgers abzielenden Datenabrufs zu messen, sondern darf
berücksichtigen, dass eine Vielzahl von Datenabfragen weitaus geringeres
Gewicht haben, über deren Zumutbarkeit im Einzelfall der hierzu berufene
Richter zu entscheiden hat.

Quelle: Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichtes


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