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Anwendung der Öffnungsklausel bei der ab 2005 geltenden Altersrentenbesteuerung (BFH X R 58/08)


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Im Streitfall liegt eine tatbestandliche Rückanknüpfung bzw. eine sog. unechte Rückwirkung vor. Dieser Rückwirkungstatbestand betrifft den sachlichen Anwendungsbereich einer Norm und ist gegeben, wenn –im Gegensatz zur Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung)– die Rechtsfolgen eines Gesetzes erst nach Verkündung der Norm eintreten, ihr Tatbestand aber Sachverhalte erfasst, die bereits vor der Verkündung „ins Werk gesetzt“ wurden (BVerfG-Entscheidungen vom 8. Juli 1971 1 BvR 766/66, BVerfGE 31, 275, und vom 14. Mai 1986 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200, BStBl II 1986, 628).


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Die einkommensteuerliche Belastung der Renteneinkünfte der Kläger aufgrund des Systemwechsels erhöhte sich erst nach Verkündung des AltEinkG am 9. Juli 2004 ab dem Veranlagungszeitraum 2005; die Kläger hatten bereits in früheren Jahren mit ihren Altersvorsorgeaufwendungen Dispositionen vorgenommen, die abschließend vollzogen worden waren und nicht mehr geändert werden konnten. Der Kläger hatte neben Einzahlungen in die befreiende Lebensversicherung weiterhin vom 1. Januar 1968 bis Ende Dezember 1986 Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt, während die Klägerin in den Jahren 1990 bis 1992 freiwillig nachträgliche Beitragszahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung für den Zeitraum vom 1. Juni 1949 bis zum 30. September 1959 leistete.

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aa) Angesichts dieser bereits vollzogenen Vermögensdispositionen wird in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) teilweise bezweifelt, ob in solchen Fällen die für den Steuerpflichtigen nachteiligen Gesetzesänderungen nach den Maßstäben der „echten“ oder aber nur der „unechten“ Rückwirkung zu beurteilen sind. In dem Vorlagebeschluss des BFH vom 16. Dezember 2003 IX R 46/02 (BFHE 204, 228, BStBl II 2004, 284) kommt der IX. Senat des BFH ausgehend von der Rechtsprechung des BVerfG zum Dispositionsschutz im Bereich steuerlicher Lenkungsnormen (BVerfG-Beschlüsse vom 3. Dezember 1997 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67; in BVerfGE 105, 17) und unter Berücksichtigung der im Schrifttum geäußerten Kritik an der bisherigen Rechtsprechung zum Ergebnis, der bislang vom BVerfG nur für (Verschonungs-)Subventionen und Steuervergünstigungen gewährte verstärkte Schutz von Dispositionen sei auf alle Steuerrechtsnormen zu erstrecken. Auch bei einer tatbestandlichen Rückanknüpfung müsse in jedem Einzelfall geprüft werden, inwieweit und mit welchem Gewicht das Vertrauen des Steuerpflichtigen in die bestehende (günstige) Rechtslage schützenswert sei und ob die öffentlichen Belange, die eine nachteilige Änderung rechtfertigten, dieses Vertrauen überwögen. Das gelte für den rückwirkenden Wegfall einer Steuervergünstigung in gleicher Weise wie für die rückwirkende Belastung mit einem neu begründeten Steueranspruch und ebenso für die Aufhebung von steuerlichen „Freiräumen“ (BFH-Beschluss in BFHE 204, 228, BStBl II 2004, 284; siehe auch BFH-Beschluss vom 6. November 2002 XI R 42/01, BFHE 200, 560, BStBl II 2003, 257).

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bb) Der erkennende Senat kann es dahingestellt sein lassen, ob dieser Auffassung allgemein zu folgen ist (so auch BFH-Urteile vom 29. April 2008 I R 103/01, BFHE 221, 121, BStBl II 2008, 723, und vom 26. November 2008 I R 56/06, BFH/NV 2009, 1241, m.w.N.), da die Änderung der Rentenbesteuerung durch das AltEinkG auch einer einzelfallbezogenen Abwägung der wechselseitigen Interessen standhält.

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Die vom Gesetzgeber im Rahmen des AltEinkG zu beachtenden Grenzen ergeben sich aus der Abwägung zwischen dem Ausmaß des durch die Gesetzesänderung verursachten Vertrauensschadens und der Beeinträchtigung der geschützten Grundrechtspositionen des Einzelnen (insbesondere Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG) einerseits und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Gemeinwohl andererseits.

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aaa) Der Kläger hat mehrere Jahrzehnte –zum größten Teil freiwillig– erhebliche Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt; die Klägerin hat zwischen 1990 und 1992 bedeutende Beträge in die Nachentrichtung ihrer Rentenbeiträge investiert. Zwar begründet auch ein in umfangreichen Dispositionen betätigtes besonderes Vertrauen in den Bestand des geltenden Rechts grundsätzlich noch keinen abwägungsresistenten Vertrauensschutz (BVerfG-Beschluss in BVerfGE 105, 17). Im vorliegenden Fall ist aber zu berücksichtigen, dass die von den Klägern geleisteten Rentenversicherungsbeiträge wichtige Bausteine ihrer Altersversorgung waren und der verschärfte Steuerzugriff sie bereits als Rentenempfänger getroffen hat, so dass beide keine Möglichkeit hatten, die Einbuße an Nettoeinkommen durch anderweitige Vermögensdispositionen auszugleichen oder der negativen steuerlichen Entwicklung auszuweichen.

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Versorgungsempfänger und Rentner haben nach der Rechtsprechung des BVerfG in der Regel schon deshalb ein hohes Interesse an der Beständigkeit der Rechtslage, weil gerade ältere Menschen leicht in eine Lage geraten können, die sie nur schwer oder überhaupt nicht aus eigener Kraft zu bewältigen vermögen. Je größer die insoweit bestehenden Gefahren sind, desto schutzwürdiger ist das betroffene Vertrauen und desto weniger darf es enttäuscht werden (BVerfG-Beschluss vom 30. September 1987 2 BvR 933/82, BVerfGE 76, 256, zu den Kürzungen der Versorgungsbezüge durch die Anrechnung der Renten durch Art. 2 § 1 Nr. 7 des 2. Haushaltsstrukturgesetzes –2. HStruktG– vom 22. Dezember 1981, BGBl I 1981, 1523). Auch wenn diese Aussagen zum Beamtenversorgungs- und Sozialversicherungsrecht gemacht wurden, haben die Grundsätze für das Steuerrecht ebenfalls Gültigkeit.

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bbb) Auf der anderen Seite muss der Gesetzgeber gerade bei notwendigerweise langfristig angelegten Alterssicherungssystemen die Möglichkeit haben, aus Gründen des Allgemeinwohls frühere Entscheidungen aufzugeben und Neuregelungen zu treffen, die den gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Veränderungen sowie den damit verbundenen wechselnden Interessenlagen Rechnung tragen (BVerfG-Beschluss in BVerfGE 76, 256). Dies gilt auch für die Besteuerung der Altersbezüge. Der Bürger kann nicht darauf vertrauen, dass der Gesetzgeber Steuervergünstigungen, die er bisher mit Rücksicht auf bestimmte Tatsachen oder Umstände gewährt hat, uneingeschränkt für die Zukunft aufrechterhält (BVerfG-Entscheidungen vom 7. Juli 1964 2 BvL 22/63, 2 BvL 23/63, BVerfGE 18, 135; in BVerfGE 105, 17), „Freiräume“ belässt oder von der Erhebung zusätzlicher Steuern absieht (BVerfG-Beschlüsse vom 8. März 1983 2 BvL 27/81, BVerfGE 63, 312; vom 28. November 1984 1 BvR 1157/82, BVerfGE 68, 287). Ein uneingeschränkter Schutz des Steuerpflichtigen in seinem Vertrauen auf den Fortbestand der bisherigen Gesetzeslage würde den dem Gesamtwohl verpflichteten demokratischen Gesetzgeber in wichtigen Bereichen gegenüber Einzelinteressen lähmen (vgl. BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 63, 312; in BVerfGE 76, 256).


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